Die Geburt der Ethnologie aus dem Geist der Tragödie

The following paper [in German] was presented during the symposium ‘The Future of German Anthropology’ on 7 November 2014 at the University of Leipzig.

 

English Abstract: The Birth of Anthropology from the Spirit of Tragedy

The future of social anthropology lies in a perspective of tragedy. Tragedy deals with the dilemmas arising from the collision of irreconcilable goods; it takes into view the inescapable entanglement of contradictory actions, examining the pathways along which intended action produces unintended outcomes. For Social Anthropology, a „perspective of tragedy“ describes a theoretical perspective, which engages in micro-analyses of entangled courses of action and their polyvalent orientations, processes of coupling and de-coupling, the constitution of figurations and the contingent encounter of divergent logics of action. These are micro-analyses of the constitution of macro-relations. Social Anthropology is superbly equipped to study such entanglements, because it can take into view all phases and interactions of such processes. Such a perspective of tragedy makes possible a notion of critique which enables us to view not only ‚what should have been’ but rather ‚what would have been possible’ by attending to the precise ways in which certain situations, specific forms of order are produced.

Abstract

Die Zukunft der Ethnologie liegt in einer Perspektive der Tragödie. Mit dem Begriff der Tragödie soll eine gesellschaftstheoretische Perspektive entwickelt werden, die Mikroanalysen der Verflechtung, der Entkoppelungsprozesse, der Konstitution von Figurationen, und das kontingente Zusammenfallen unterschiedlicher Handlungslogiken in Situationen erfasst. Die Tragödie behandelt die tragische Kollision von unvereinbaren Positionen; sie handelt von den Dilemmata, und vom Ineinanderwirken verflochtener aber eventuell widersprüchlicher Handlungen, die ihren eigenen Logiken, Zielsetzungen und Wertigkeiten folgen und in der Summe etwas anderes produzieren, als sie intendieren. Die Ethnologie ist prädestiniert für die Untersuchung solcher Verkettungen, weil diese nur in Mikroanalysen, in denen alle Phasen/Stationen/Interaktionen solcher Prozesse in den Blick kommen, sichtbar sind, Mikroanalysen freilich, die sich als Mikroanalysen der Konstitution eines Makrozusammenhangs verstehen. Damit wird ein Kritikbegriff möglich, der nicht Absichten, nicht „Gesinnungen“, sondern Konsequenzen in den Blick nimmt (ohne die Relevanz von Gesinnungen zu negieren), und der Zusammenhänge in Hinblick auf die Verkettung von Entscheidungsprozessen und deren polyvalenten Orientierungen befragt – und somit auch die möglichen Alternativen, die zu bestimmten Punkten im Prozess tatsächlich möglich waren.

Ich habe mich in den letzten Jahren viel mit der Zirkulation von normativen Ideen und Modellen beschäftigt, mit Rechtstransfer, wie es manchmal genannt wird. Dabei habe ich mich oft in interdisziplinären Zusammenhängen bewegt. Die zentrale Erwartung an die Ethnologie, die mir in diesen interdisziplinären Zusammenhängen entgegen tritt, ist, dass sie das Fremde erkläre. Obwohl auch andere Fächer die Ethnographie als Methode entdeckt haben, ist die Expertise über das Fremde oft die zumindest vordergründige Vorstellung davon, was unser Fach zu leisten habe. Das reicht von kruden Vorstellungen a la „Wie ticken denn die Hottentotten, damit wir ihnen eine Verfassung schreiben können“ bis zu differenzierten und theoretisch informierten Vorsichten gegenüber dem „Verstehen können“ der Anderen.

So sorgen sich im Zusammenhang mit dem Rechtstransfer die einen um das Schicksal der Normen, wenn diese auf Reisen gehen, und die anderen sorgen sich um das Schicksal jener, die solchen fremden Normen unterworfen sind. Die einen gehen von der Idee des Originals aus, der Original-Norm, die in ihrer Umsetzung verzerrt, verändert abgewandelt werden könnte. Die anderen gehen von der Idee der Authentizität aus, eine Idee von Authentizität, die letztlich auch die Vorstellung von der normativen Integration spezifischer sozialer Gruppen enthält. Die sozialen Prozesse, die über die Sozialisation hinaus zur Geltung spezifischer Normen, bzw. zu einem normativen Konsens führen, bleiben hier auf Grund einer „Ehrfucht vor dem Anderen“ unreflektiert.

Diese Ehrfurcht vor dem Anderen unterstellt eine allumfassende, absolute Differenz. Sie führt dazu, dass wir bei der Betrachtung des Anderen nur das Andere suchen und so nicht das Gemeinsame thematisieren können, dass doch einen Großteil unser aller Alltag, wie es Veena Das nennt, prägt. Zum Zweiten verstellt diese Ehrfurcht vor dem Anderen den Blick auf dessen Konstitution durch seine Beziehung zu uns – auf die Relationalität von Differenz.

Die Ethnologie hat verschiedene Aufgaben. Der Versuch, das Andere in seiner Andersartigkeit zu verstehen ist eine. Die andere Aufgabe der Ethnologie war immer, und das schwingt ja im Namen der Anthropologie mit, das Universale, das Gemeinsame zu verstehen. Aus dieser Perspektive muss man nicht das Andere, sondern Differenz – als immer relational – verstehen.

 

Ich gehe davon aus, dass wir die Relationalität von Differenz nachzeichnen können. Es besteht darüber keine Einigkeit in unserem Fach. Man muss zwar Differenz nicht allein über ihre Konstitution in der Beziehung zum anderen erfassen; damit würde man Manches übersehen. Man kann aber, meine ich, alle Differenz auch in ihrer Relationalität beschreiben. Und dies ist der Aspekt, der mich besonders interessiert, und den ich HEUTE als die vordringliche Aufgabe unseres Faches sehe – wo sie zu anderen Zeiten vielleicht eher darin lag, die Geltung des Anderen als Anderes zu behaupten [1].

 

Ich erzähle zu diesem Zweck gerne eine der vielen kleinen Geschichten mit denen wir unsere großen Thesen darstellen. Am liebsten erzähle ich die Geschichte von Savitas Scheidung: Sie spielt wie viel meiner kleinen Geschichten in einem grossen slum von Bombay. 2001 war ich zufällig zu einer Hochzeit in diesem slum eingeladen. Es war ein junges Hindu Paar, deren Ehe von den Eltern arrangiert worden war. Sie heirateten nach Hindu Ritus und ließen die Heirat nicht standesamtlich registrieren.

Ein Jahr später saß ich mit der damaligen Braut, Savita Bandari, ihrer Mutter, dem Ehemann von Savita, einem Vertreter der hindunationalistischen Shivsena Partei, big man im Viertel, und einer muslimischen Vertreterin einer lokalen NGO zusammen und es ging um die Scheidung der jungen Leute. Genauer ging es um die Frage, wie mit der Mitgift der Tochter umzugehen sei, bzw. dem „Stridhan“. Mitgift ist nach staatlichem Recht seit 1961 in Indien verboten ist aber eine sehr verbreitete Praxis. Verschiedene Gesetze regeln also dann auch den Umgang mit der Praxis, so z.B. auch die Rückgabe der Mitgift.

Die schlechte psychische Verfassung der Tochter war nun zentraler Gegenstand der Verhandlung: Der Mann argumentierte, er sei bei der Ehe betrogen worden, hätte eine unfähige Frau erhalten, und sei deswegen nicht verpflichtet, die Mitgift zurückzuzahlen.

Mit dieser Argumentation war schon der erste Verhandlungsversuch im Jamaat, der Kastenversammlung zu Ende gegangen. Hier hatte die Mutter auf der Erfüllung von Hindu Familienrecht gepocht, also der Rückgabe der Mitgift, die aber vom dort tätigen Vermittler auf Grund des geistigen Zustands der Tochter abgelehnt worden war. Daraufhin hatte sich die Mutter an das NGO gewandt, der Mann den Parteivertreter der Shivsena hinzugezogen.

Die Verhandlungen erstreckten sich nun über einige Wochen. Die Mutter argumentierte nun, ihre Tochter sei allein auf Grund der Ehe in einem solchen Zustand. Der Mann sei von Anfang an fremdgegangen. Er sei also Schuld. – hier kam zum ersten Mal die Idee der Schuld auf. Der Mann entgegnete, seine Frau hätte ihre ehelichen Pflichten von Anfang an nicht erfüllen können; nur deswegen sei er fremd gegangen. Sie sei also schuld.

In der zweiten Woche forderte die Mutter plötzlich nicht nur die Rückgabe der Mitgift, die sich auf einige Saris, Töpfe und andere kleinere Haushaltsgeräte belief, sondern eine einmalige Unterhaltszahlung von 13 500 Rupien – eine beträchtliche Summe für den Mann, der ein ungefähres Monatseinkommen von 1000 Rupien hatte. Die Mutter argumentierte, das sei das Recht ihrer Tochter, und es wäre dazu da, den Schaden, den der Mann angerichtet hätte, wieder gut zu machen. Streng genommen argumentierte sie nun nicht mehr im Rahmen des Hindu Rechtes innerhalb dessen die Ehe geschlossen worden war. Vielmehr wechselte sie in einen anderen Diskurs, den von Frauenrechten. Sie ließ durch einen Bekannten einen Brief an die Menschenrechtskommission schreiben, den sie diktierte.

 

Ich habe an anderer Stelle auf die Gerüchte vom Recht hingewiesen, die in der Zirkulation von Normen meines Erachtens eine wichtige Rolle einnehmen. Gerüchte vom Recht verweisen uns auf die Norminterpretationen jener, die ihre Hoffnungen und Ängste über sie artikulieren; sie verweisen auf die handlungsleitenden Umdeutungen, die sowohl aus Synthesen alternativer Normordnungen anhand von Alltagsunterscheidungen zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit entstehen, als auch vorgängige normative Orientierungen transformieren, und damit eventuell – in ihrer Aggregation – einen weiteren Wandel der Normen hervorbringen können.

 

Das heißt, dass normativer Wandel über dialogische Interpretationen verstanden werden muss, die uns auch auf die relationale Qualität menschlicher Handlungs-Freiheit verweisen. Es geht dabei letztlich um das alte sozialanthropologische Thema, die sterile Opposition zwischen sozialer Determinierung auf der einen und einer Idee des autonomen Individuums auf der anderen Seite zu überwinden, und einen Begriff von Handlungsfreiheit zu entwickeln, der diese als zutiefst sozial hervorgebracht erfasst (vgl Laidlaw 2014).

Auf diese grundlegenden Fragen zu menschlichem Handeln, die gerade in der gegenwärtig so lebendigen Anthropologie der Moral neu debattiert werden, möchte ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen.

Vielmehr möchte ich die Geschichte weiter erzählen und anhand ihres Verlaufs eine bestimmte analytische Perspektive vorschlagen.

Nachdem Savitas Mutter den Brief an die Menschenrechtskommission diktiert hatte, drohte ihr der Vertreter der Shivsena, strong man im Viertel, er würde sie und ihre Tochter vertreiben lassen. Dies schüchterte die Mutter sehr ein. Sie wollte die Verhandlungen abbrechen. Doch nun trat die Vertreterin der NGO wieder auf den Plan, drohte im Gegenzug, sie würde den Ehemann wegen Mitgift bezogener Gewalt bei Gericht verklagen. Sie legte auch eine Klage unter Sec. 125 des Criminal Procedure Codes nahe, demnach ein Mann keine Angehörigen im Elend leben lassen darf, auch nicht eine frühere Frau. Sie mobilisierte die Frauen des Viertels, um vor dem Shakha (dem Orstverein) der Shivsena zu protestieren. Sie sah darin auch eine Gelegenheit, ihre Autorität im Viertel gegen die der Shivsena unter Beweis zu stellen.

Dies gelang auch. Der Shakha Pramukh zog sich aus dem Verfahren zurück. Zu gering schien ihm der Nutzen, sich hier für den Mann einzusetzen in Hinblick auf Anhängerschaft und Wahlstimmen im Viertel. Eine Wahl stand an. Dafür schaltete sich nun die Frauenvereinigung der Shivsena ein, die Mahila Aghadi, die viel in familiären Konflikten tätig ist. Sie traten für das Unterhaltsrecht der Frau ein – und wollten sich damit nun als die eigentlichen Vorreiterinnen der Frauenrechte gegenüber der muslimischen NGO Vertreterin profilieren- und als Frauen gegenüber ihrem männlichen Kollegen.

Der Ehemann, der nun mit seiner Interpretation recht allein auf weiter Flur war, willigte ein, die Mitgift zurückzuzahlen und auch die 13500 Rupien Unterhalt. Die NGO unterließ eine Klage wegen Mitgift bezogener Gewalt. Die Menschenrechtskommission von Maharshtra lehnte die Klage der Mutter ab, weil sie nicht zuständig wäre.

Wie konnte es zu diesem Ergebnis kommen, das so nicht unbedingt erwartbar war? Zwar waren die gesetzlichen Grundlagen gegeben, aber die Konstellation der Akteure hätte einen anderen Ausgang wahrscheinlicher gemacht. Ich könnte diese Geschichte auch „Laura Bush in Dharavi“ nennen, denn es war eben kurz nach dem Plädoyer Laura Bushs für die Rettung der afghanischen Frauen vor den Taliban, dass der Frauenrechtsdiskurs so attraktiv für die Shivsena Frauen wurde und eine – politische -Einheit zwischen säkularem und Hindu-recht stiftete. Die Rechtsinterpretation der Shivsenafrauen verweist nun sehr deutlich auf den Rahmen, den unterschiedliche Normensystem für einander abgeben, aber eben auch auf die politischen Dynamiken, die dazu führen, inwiefern unterschiedliche Akteure sich wogegen abgrenzen. Aber schon der Rückzug des Shakha Pramukhs aus dem Konflikt verweist auf die unterschiedlichen Felder, deren Logiken und Dynamiken in der Positionierung gegenüber Normen zum Tragen kommen: die demokratische Konkurrenz ließ es für ihn zu diesem Zeitpunkt inopportun erscheinen, hier die falschen Normen durchzusetzen.

Diese relationalen Prozesse sind es, die man im Hinblick auf Rechtstransfer und andere Zirkulationsprozesse meines Erachtens untersuchen muss. Hier kommt man zu dem eigentlichen Thema der Rechtstransfers: wer wird in bestimmten Situationen wie dadurch bemächtigt? D. h. welche Allianzen werden gestiftet? Wie spielt eine immer asymmetrische globale Öffentlichkeit, die Medien, Fragen also des agenda settings hier hinein? Welches Gewicht gewinnen unterschiedliche Handlungsorientierungen durch die Einbettung der Akteure in verschiedene Felder? Es geht hiermit um dynamische Konstellationen, in denen alle Beteiligten in verschiedene Handlungsfelder eingebunden sind.

Insofern liegt für mich die Aufgabe der Ethnologie in einer diachronen und synchronen Zusammenhangsforschung, welche soziale Phänomene – Situationen – in Hinblick auf ihre Konstitution in dynamischen Verflechtungen untersucht. Es ist in solchen Situationen, dass das, was Anna Tsing „Friction“ (2004) nennt, also das kontingente Zusammenfallen unterschiedlich weitreichender Zirkulationsprozesse, nachvollziehbar wird. Dies gilt für alle Prozesse, weder nur für die nur die „Globalen“, noch allein für die kleinen Geschichten von den kleinen Leuten.
Insofern geht es bei dieser Perspektive auf Verkettungen nicht darum zu behaupten, dass plötzlich alles global ist, wo es vorher lokal oder autonom war, sondern darum, eine der Ethnologie meiner Meinung nach grundsätzlich inhärente Perspektive auf die historische und soziale Konstitution eines Phänomens stark zu machen für das Verständnis der Gegenwart.

Genauso wenig geht es darum, die theoretisch potentiell unendlichen Ketten nachzuzeichnen, in denen Prozesse miteinander verflochten sind, sondern erstens zu fragen, wie weit solche Verkoppelungen in Raum und Zeit reichen, und zweitens die – letztlich politischen – Schnitte in Verflechtungsprozessen zu beobachten, die durch bestimmte Institutionen vorgenommen werden (vgl. Strathern 2001)[2].

Das heißt, wir können in dieser Perspektive auch Entkoppelungen thematisieren, Entkoppelungen, die entweder auf Autonomie, oder auf Isolation aufruhen können. Die Möglichkeit der Entkoppelung kann also sehr unterschiedliche Grundlagen und somit auch sehr unterschiedliche Folgen in Hinblick auf Inklusion und Exklusion aus weiteren sozialen Zusammenhängen haben. Eine Entkoppelung als Entkoppelung zu thematisieren, und nicht als gegebene „Autonomie“, erlaubt uns, die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu befragen und insofern erst die Konstitution dessen, was als gegeben erscheint, zu verstehen.

 

Das heißt: Es geht gar nicht allein um „Globalisierung“ oder Verflechtung in Zeit und Raum. Es geht vor allem um eine gesellschaftstheoretische Perspektive, um Mikroanalysen der Verflechtung, der Entkoppelungsprozesse, der Konstitution von Figurationen, und dem kontingenten Zusammenfallen unterschiedlicher Handlungslogiken in Situationen.

 

Mir scheint unser Fach prädestiniert für deren Untersuchung, weil wir in Mikroanalysen alle Phasen/Stationen/Interaktionen solcher Prozesse in den Blick nehmen, und in Hinblick auf deren Verkettung untersuchen können. Ich denke, solche Verkettungen sind eigentlich nur in der Mikroperspektive sichtbar, aber natürlich einer, die sich als Mikroperspektive auf die Konstitution eines Makrozusammenhangs versteht.

II. Und damit bin ich auch beim zweiten Aspekt der Kritik. Es geht in der Sozialanthropologie ja auch immer ein bisschen darum, die Welt, oder vielmehr die Verdammten dieser Erde zu retten. Es schließen sich an dieses Unterfangen unterschiedliche Fragen an. Die erste, naheliegende ist: „wer war’s?“ so ein bisschen a la Agatha Christie. Sie schleicht sich nach meinem Eindruck in viele anthropologische Analysen ein – zum Teil natürlich ethisch völlig zu recht. Empört euch!

Hier überlege ich, ob die Perspektive der Tragödie sinnvoll ist, einer Mikroperspektive auf diachrone und synchrone Zusammenhänge gerecht zu werden. Ich habe den Eindruck, wir sollten die Frage „Wer war’s“ durch die Frage „wie konnte es dazu kommen, auch wenn unter Umständen alle etwas anderes wollten“ ersetzen. Dies ist die Frage der Tragödie. Die Tragödie behandelt die tragische Kollision nicht zwischen Gut und Böse, sondern zwischen einseitigen Positionen, von denen jede etwas Gutes enthält (bei Hegel). Sie handelt von den Dilemmata, und vom Ineinanderwirken verflochtener aber eventuell widersprüchlicher Handlungen, die alle ihren eigenen Logiken, Zielsetzungen und Wertigkeiten folgen und in der Summe etwas anderes produzieren, als sie intendieren.

Mit der Frage „wie konnte es dazu kommen“ machen wir uns unabhängig von Absichten. Wir behaupten nicht, dass es keine Absichten gäbe, und auch nicht, dass sie keine Rolle spielen. Aber wir sehen mehr, und zwar auch davon, wie Absichten zum Tragen kommen. Wir machen uns auch unabhängig von Vorstellungen eines wirkmächtigen „Weltgeistes“, dem Neoliberalismus, oder anderen Gouvernmentalitäten. Nicht dass es keinen Zeitgeist gäbe: Es gibt Moden, die auch wirksam werden, darüber z.B. dass sie Allianzen zwischen unterschiedlichen Akteuren stiften, dass sie eine gemeinsame Sprache bereitstellen, wie z.B. „die Menschenrechte“, die Menschen mit unterschiedlichen Anliegen verwenden können, um ihre Projekte in einem relevanten Rahmen verständlich und legitim zu machen (vgl. Merry 2006); oder Moden, die unterschiedlichste Projekte sich selbst erklären und damit orientieren, wie z.B. der Humanitarismus (vgl. Fassin 2010). Genau wie Absichten können diskursive Moden also hohe Wirkmächtigkeit entfalten. Wie sie dies genau tun, können wir meines Erachtens aber eher verstehen, wenn wir eben die Perspektive der Tragödie verwenden.

 

Mit der Perspektive der Tragödie: „Wie kam es dazu“ sehen wir, wie Absichten, Zeitgeist, ineinanderwirken und Resultate produzieren, die eben nicht unbedingt intendiert sind, nicht der einen Logik entspringen, nicht die Entfaltung des Weltgeistes bedeuten. Dem Ergebnis können wir einen Namen geben. Der Prozess, der das Ergebnis hervorgebracht hat, würde in seinem Charakter nicht erfasst: er ist durch die Kontingenz des Zusammenwirkens unterschiedlicher Handlungslogiken bestimmt.

 

Hier ist vielleicht auch auf die Affinität einer solchen Perspektive mit einem „neuen Holismus“ zu verweisen, wie sie ihn z.B. Tatjana Thelen und Erdmute Alber vorschlagen in ihrer exemplarischen Zusammenschau von neuerer Verwandtschaftsforschung und der Ethnologie des Staates (z.B. **). Während die Expertise für die Anderen ja insbesondere die uns zugeschrieben Rolle ist, ist der Holismus vielleicht das eigentliche Alleinstellungsmerkmal unseres Faches. Natürlich kein strukturfunktionalistischer – widerspruchsfreier – erklärender Holismus, sondern ein verstehender, der die Pluralität von gleichzeitigen Handlungsorientierungen in den Blick nimmt, – die eben nicht frei von Widersprüchen ist [3].

Mit dieser Perspektive unterscheiden wir uns allein im Erkenntnisinteresse vielleicht am zentralsten von den diversen Versionen der Differenzierungstheorie. Nicht, dass wir diesen Unterschied als einen absoluten verstehen müssen, denn auch Differenzierungstheoretiker interessieren sich für die Umwelt des Systems, und auch wir interessieren uns für abgekoppelte Eigendynamiken von Teilfeldern – oder vielleicht doch nicht? Ist unsere Frage nicht doch immer die nach den Bedingungen der Möglichkeit von Eigendynamiken, also letztlich doch wieder der Konstitution der „Autonomie“ oder Entkoppelung? Und ist es nicht genau die Aufmerksamkeit auf das Ineinanderwirken unterschiedlicher Logiken, die uns auch von allen teleologischen oder anderen Hierarchisierungen sozialer Ordnungsmuster Abstand nehmen lässt (die in den meisten differenzierungstheoretischen Perspektiven zumindest irgendwo am Horizont schweben – es geht eben immer um eine Zunahme an Differenzierung, eine Steigerung der Systemautonomie)? Ist eben nicht genau die Nicht-Privilegierung irgendeines solchen Ordnungsmuster durch eine holistische Perspektive begründet, die alle Ordnungsmuster in diesem Sinne betrachtet, das heißt: überall nach dem strukturbildenden Zusammenfallen unterschiedlicher Handlungsorientierungen fragt?

Aber: „Wie können wir denn dann kritisieren?“ Ist die Untersuchung des kontingenten Zusammenwirkens unterschiedlicher Logiken nicht im Ergebnis „rein deskriptiv“ – eine Verlaufsgeschichte ohne Reflexion der Selektion der Beobachtungsobjekte? Müssen wir nicht, wie Toscano (2012) argumentiert hat, die Totalität in den Blick nehmen, um die Logik des Zusammenfallens unterschiedlicher Handlungslogiken zu verstehen?

 

Meines Erachtens ist die Perspektive der Tragödie die effektivere Gesellschaftskritik, als sie erstens nicht „Gesinnungen“ sondern Konsequenzen in den Blick nimmt, und zweitens Zusammenhänge in Hinblick auf Problembestimmungen schlicht besser sichtbar macht. Vor allem aber macht sie in ihrer Mikroperspektive die Weichenstellungen sichtbar, die Verkettung von Entscheidungsprozessen und deren polyvalenten Orientierungen – und somit auch die möglichen Alternativen, die zu bestimmten Punkten im Prozess tatsächlich möglich waren.

 

Vor allem aber kann diese Perspektive meines Erachtens die zwei Dimensionen sozialanthropologischer Suche vereinen, nämlich die Ordnung der Welt und ihren Wandel zu verstehen, und menschliches Handeln in seiner Bedingtheit und seinen vielfältigen Orientierungen zu erfassen.

 

Fußnoten

[1] Wir haben uns lange damit beschäftigt, wie wir den theoretischen Dilemmata entkommen, die sich auftun, will man begründen, wie man das Andere verstehen kann, wenn dieses Verstehen grundsätzlich als „unübersetzbar“ behandelt wird, weil durch die Übersetzung das Original, das Authentische schon den Konzepten und Kategorien des Verstehens anheim fällt. Ich denke, wir haben gute Gründe anzunehmen, dass wir einander verstehen können.
[2] Ich sehe die Aufgabe der Ethnologie weniger im Nachzeichnen der Ketten der Verflechtung, sondern in der Analyse der Schnitte in den Verflechtungsketten. Eine solche Perspektive würde dem „Sozialen“ einen wieder sehr viel zentraleren Stellenwert geben, als es Latour – mit dem diese Position manchmal verwechselt wird – täte, auch wenn das „Soziale“ durch ebendiese Schnitte selbst konstituiert wird.
[3] Ein neuer Holismus kann sich nicht damit begnügen, das Ineinanderwirken der verschiedenen systematischen Teilbereiche der Sozialanthropologie in der Empirie zu untersuchen, denn die Bestimmung dieser Teilbereiche impliziert einen Meta-Standpunkt, und ist ja an sich schon Ergebnis spezifischer Differenzierungskonzeptionen. Vielmehr muss ein Holismus heute die Pluralität der Handlungslogiken erst einmal etablieren und die Grundlage der Verschiedenheit der Logiken thematisieren, um dann ihr Zusammenfallen/Zusammenwirken in Situationen zu analysieren.

 

Literatur
Fassin, Didier 2012: Humanitarian Reason. A Moral History of the Present. Berkeley: University of California Press.
Laidlaw, James 2014: The Subject of Virtue; An Anthropology of Ethics and Freedom. Cambridge: Cambridge University Press.
Merry, Sally 2006: Transnational Human Rights and Local Activists: Mapping the Middle. American Anthropologist 108, 38-5
Strathern, Marilyn 2001: Cutting the Network, in: Journal of the Royal anthropological Institute, 2, 517-535.
Toscano, Alberto 2012: Seeing it whole: staging totality in social theory and art, in: The Sociological Review 60, S1, 64–83.
Tsing, Anna 2004: Friction. Ethnography of Global Connection. Princeton: Princton University Press.

Cite this article as: Eckert, Julia. December 2014. 'Die Geburt der Ethnologie aus dem Geist der Tragödie'. Allegra Lab. https://allegralaboratory.net/die-geburt-der-ethnologie-aus-dem-geist-der-tragodie/

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