Leipzig 100 Years: Commentary on the “future of anthropology”

My commentary takes up the following questions: What are the theoretical, methodological and pragmatic challenges for an anthropology of the twenty-first century? How can anthropology gain (new) relevance in a globalized, post-colonial world of criss-crossing legal, techno-scientific, economic, representational and other models and their fluid assemblages? What kind of knowledge do anthropologists produce and under which circumstances? What are the expectations that anthropologists face from the outside (activists, politicians, technocrats, colleagues from other disciplines, people “studied”) and how can we face these, creatively? I argue that the future of anthropology is closely linked to its past. Destabilizing the “savage slot” (Michel-Rolph Trouillot) also implies that we ask about genealogies of power and knowledge in contemporary research practices. “Collaboration” might not be a solution in all circumstances. Instead, an emphasis on the relational quality of differences (termed diffraction by Karen Barad and Donna Haraway) leaves room for a plurality of perspectives and the analysis of contingencies and unintended consequences. Finally, I reflect on the potential of “translation” as a theoretical and methodological tool to emphasize practice and multiple adaptations (and not so much the relationship of sign and signified). An anthropology of the future is not merely characterized by a shift from the “savage slot” into the “belly of the beast”, so to speak, but rather by a specific methodological strength that anthropologists can offer: not so much as experts for the “other” but rather as careful analysts of multilayered and complex social practices.

Die vorliegenden Beiträge regen an darüber nachzudenken, welche Rolle die Ethnologie im 21. Jahrhundert spielen kann und welche theoretischen, methodischen und forschungspragmatischen Erfordernisse damit einhergehen. Wie kann die Ethnologie ihre Daseinsberechtigung in einer globalisierten, post-kolonialen Welt behaupten? Welche Rolle spielt ethnologisches Wissen in der heutigen Zeit und vor allem, wie und unter welchen Prämissen wird es produziert? Welche Erwartungen werden von außen an die Ethnologie herangetragen und wie können EthnologInnen diesen kreativ begegnen?

Beginnen möchte ich meinen Kommentar mit einer weiteren Frage, die mir zentral für diese Diskussion scheint, nämlich der Frage danach, wie die mögliche Zukunft der Ethnologie (vielleicht auch als eine Ethnologie der Zukunft?) mit ihrer Vergangenheit zusammenhängt bzw. wie man diesen Zusammenhang analytisch fassen kann. Seit ihren Anfängen war die Ethnologie offenkundiger als andere Disziplinen von einer engen Verzahnung von globaler Politik, lokalem Handeln und wissenschaftlicher Interpretationsmacht geprägt, die freilich erst im Zuge postkolonialer Kritik deutlich thematisiert wurden. Mich interessiert welche theoretischen Angebote das Fach heute daraus generieren kann. Angesichts des hundertjährigen Jubiläums der Institutionalisierung der Ethnologie in Leipzig und Deutschland ist dies eine Frage von besonderem Belang – auch wenn die Krise der Repräsentation, die mit der Destabilisierung des anthropologischen „savage slot“ (Trouillot 1991) seit spätestens den 1990er Jahren einherging, von vielen heute als überwunden oder vielleicht auch nicht mehr konstruktiv erachtet wird. Dennoch stehen ja nicht nur die ethnologischen Museen und Sammlungen vor dem Problem, wie mit den Wissensbeständen und Objekten aus der Kolonialzeit heutzutage umzugehen ist oder welche Zukunftsvisionen auf dieser Basis entworfen werden können.

 

Sondern die materiellen Bedingungen und historischen Genealogien der ethnologischen Wissensproduktion selbst stehen ebenfalls immer wieder auf dem Prüfstand.

 

Andrea Behrends und Patrick Eisenlohr greifen beide diese Frage auf, wenn sie auf das nach wie vor vorhandene strukturelle Ungleichgewicht verweisen, das die akademische Wissensproduktion in vielfacher Hinsicht kennzeichnet. Für Patrick Eisenlohr sind es zunächst v.a. die sogenannten Leitwissenschaften, die den globalen Anschlusszug gewissermaßen verpasst haben – zumindest dann wenn sie an einem euro-amerikanischen Universalitätsanspruch festhalten, demgegenüber die sogenannten Regionalwissenschaften als exotisch und marginal erscheinen, obwohl sie doch riesige Teile der Menschheit repräsentieren. Zwar gewinnen die Regionalwissenschaften in einer global vernetzten Welt zunehmend an Bedeutung – wie es ja auch durch die jüngeren Förderinitiativen des BMBF dokumentiert wird. Dies impliziert in der Praxis jedoch häufig die Prämisse, hier könnte wichtiges kulturelles Kontextwissen akkumuliert werden. Insbesondere der Ethnologie wird, wie z.B. Julia Eckert es beschreibt, seitens der Politik und anderer Disziplinen immer wieder eine Erklärungsfunktion für „das Fremde“ oder auch eine Sensibilisierung für die kulturelle Differenz „der Anderen“ – im Sinne einer einfachen Übersetzung – zugeschrieben. Dabei ist das Bewusstsein für globale historische und gegenwärtige Verflechtungen durchaus gegeben – deren Analyse bleibt jedoch in vielfacher Hinsicht westlichen ExpertInnen überlassen, deren institutionelle Hegemonie nicht zur Debatte steht. Eine „Provinzialisierung Europas“ wie von Dipesh Chakrabarty (2002) so eindringlich und zitierfähig gefordert, ist im akademischen Mainstream nicht unbedingt angelegt.

Diesen Punkt führt Andrea Behrends aus einer anderen Richtung her aus, wenn sie nach den strukturellen und epistemologischen Bedingungen für ein gemeinsames Forschen fragt, das über den konkreten Feldforschungsprozess hinausweist und die akademische Wissensproduktion in allen Stadien umspannt. Ausgehend vom Begriff der Kollaboration, wie ihn Elisabeth Povinelli auf ihrem EASA-Eröffnungsvortrag 2014 entwickelte (Povinelli 2014), plädiert sie für die Forschung als „travelling model“, das letztlich zu einer Transformation aller Beteiligten führen kann und muss. Voraussetzung dafür ist zunächst die persönliche Integrität aller Beteiligten – und die Kollaboration gerät an ihre Grenzen, wenn z.B. beobachtete Praxis, persönliche Überzeugung und universaler Menschenrechtsdiskurs aufeinanderprallen, wie im Beispiel der Polizeiforschung von Jan Beek, auf das sie Bezug nimmt. So eingängig die Forderung nach Kollaboration klingt, bleibt für mich dennoch die Frage offen, inwiefern der Kollaborationsgedanke selbst als eine Art Metacode (s. Rottenburg 2005), der alle Beteiligten zusammenführt, funktionieren kann bzw. ob er per se schon zur Legitimierung der ethnologischen Praxis beiträgt. Wie hängen Kollaboration und Macht in ihren vielschichtigen – auch historischen – Dimensionen zusammen?

 

Und inwiefern macht es Sinn, die Kollaboration selbst als ein Ideal zu proklamieren, ihre Grenzen oder ihr Scheitern hingegen zu problematisieren? Besteht hier eventuell die Gefahr, Kollaboration zu banalisieren, oder gar eine Art Erlösungsnarrativ zu konstruieren?

 

Dies führt mich zu einem weiteren Aspekt, den ich für besonders diskussionswürdig halte und der v.a. im Vortrag von Julia Eckert explizit gemacht wird. Sie betont die Relationalität von Differenz und das besondere Potential ethnologischer Theoriebildung, auf diese Kontingenz und Friktion hinzuweisen (vgl. auch Haraway 1997; Barad 2003). Die Perspektive der Tragödie „Wie konnte es dazu kommen“ – auch wenn alle Beteiligten vielleicht etwas anderes wollten – entzieht einer teleologischen Gesellschaftskritik mit eindeutig zugewiesenen Positionen den Boden. Stattdessen richtet sie die Aufmerksamkeit auf konkrete Handlungszusammenhänge, Prozesse, Widersprüche und Pluralitäten sowie deren Zusammenwirken. Als kritische Empirie vermag die Ethnologie dann vielleicht am ehesten das umzusetzen, was Patrick Eisenlohr in seinem Beitrag fordert – nämlich eine direkte Intervention in zentrale Debatten der europazentrisch arbeitenden Disziplinen zu leisten und, ich zitiere, deren „universal zirkulierenden Kategorien unter Kritik ihres europäischen geschichtlichen Gepäcks neu zu denken“.

Für dieses „Neu-Denken“ halten alle drei Beiträge ein Übersetzungsmodell bereit, das nicht so sehr Zeichen und Bedeutung in den Vordergrund stellt, sondern Praxis und multiple Aneignung.

Andrea Behrends bezeichnet die Ethnologie selbst als ein „travelling model“ und spricht damit auch auf das geschichtliche Gepäck an, das das Fach und seine Methodik geprägt hat. Der „Erfolg“ des Modells hängt nun davon ab, ob und wie es transformierbar ist. D.h. einerseits, ein travelling model muss anschlussfähig an lokale Interpretationen sein – im Sinne der „radical translation“ von Quine (1969) braucht es zunächst das Vertrauen in die Möglichkeit eines geteilten Interpretationsrahmens, auch wenn die spezifischen lokalen Referenzen zunächst nicht bekannt sind. Hier wird für mich auch klarer, warum Povinellis Ansatz attraktiv erscheint – denn bei ihr steht der Übersetzungsprozess selbst im Mittelpunkt, der den Kollaborierenden „ihre fundamentale Differenz bewusst macht, sie aber gleichzeitig zur Kollaboration verpflichtet“ (Behrends). Diese Kollaboration schließt die Verhandlung und wechselseitige Transformation unterschiedlicher Modelle und Wissensformationen ein.

Während bei Andrea Behrends ein gemeinsames Ziel schon am Horizont aufscheint, verweist Julia Eckert in ihrem Beitrag darauf, dass konkrete soziale Situationen, die wir als EthnologInnen untersuchen, oftmals durch die Polyvalenz und hohe Mobilität von konkurrierenden Modellen gekennzeichnet sind – in ihrem Beispiel über zirkulierende Rechtsnormen wurde uns dies besonders eindringlich vor Augen geführt. Das kritische Instrumentarium der Ethnologie – und damit ihre Relevanz in Gegenwart und Zukunft – liegt ihres Erachtens darin, durch mikrosoziologische Untersuchungen komplexe Verflechtungs- und Entkoppelungsprozesse in ihrer Entstehung und Auswirkung zu analysieren, unterschiedliche Handlungslogiken und deren Effekte sichtbar zu machen und damit, wenn man so will, potentiell bessere Kommunikation zu ermöglichen – ohne aber dabei den von Joel Robbins (2013) jüngst so bezeichneten „suffering slot“ der Ethnologie einzunehmen, der auf die Identifikation mit den „Verdammten dieser Erde“ auf der Basis geteilter Leidensfähigkeit abzielt. Identifikation ist möglich, ja, aber nur partiell (im Sinne von Stratherns Idee der „partial connections“, 1991) und an konkrete Praxis geknüpft.

Bei Patrick Eisenlohr ist Übersetzung ebenfalls zentral, ja sogar am klarsten ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Zum einen ist Übersetzung für ihn der Schlüsselbegriff, um die Dynamiken kultureller Aneignung, die grundlegendes Thema ethnologischer Forschung sind, zu fassen. Hier sehe ich deutliche Parallelen zum Ansatz der travelling models, auch wenn nicht direkt von einer zirkulierende Referenz oder einem Modell die Rede ist. Zum anderen erweitert Patrick Eisenlohr die Perspektive aus der Lokalität heraus hin auf das das klassische vergleichende Projekt der Ethnologie selbst. Anhand des Religions- und Öffentlichkeitsbegriffs zeigt er sehr deutlich, was ein Übersetzungsbegriff, der sich an pragmatistischen Modellen orientiert, leisten kann – nämlich Differenz deutlich zu machen, ohne sie zu essentialisieren. Denn es geht auch in der vergleichenden Perspektive nicht primär darum, Bedeutung von einem Kontext in einen anderen zu übersetzen, sondern vielmehr die Entstehung dieser Bedeutung im Übersetzungsprozess selbst in den Blick zu nehmen. Damit rückt, wie auch in den anderen Vorträgen, das soziale Handeln in den Mittelpunkt – hier über die Performanz von Sprache und Religion, in anderen Feldern mit anderen Akzenten.

Eine Ethnologie der Zukunft, wenn wir davon sprechen wollen, ist also nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass wir uns vom savage slot abwenden oder längst abgewendet haben und uns verstärkt globalen Zusammenhängen und Technologien zuwenden oder auch unser Untersuchungsfeld quasi in den „Bauch der Bestie“ (seien es die Weltbank, genetische Labore, Pharmaunternehmen, die Ölindustrie u.ä.) verlagern. Wie die Vorträge, so finde ich, sehr deutlich gezeigt haben, hat die Ethnologie darüber hinaus eine methodologische und analytische Stärke zu bieten, die ihre PraktikerInnen dafür prädestiniert, Stellung zu zentralen Problemen unserer Zeit zu beziehen – nicht als ExpertInnen für das „Andere“ sondern als genaue BeobachterInnen vielschichtiger sozialer Praxis.

 

Literatur
Barad, Karen. 2003. “Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter.” Signs 28 (3):801-832.

Chakrabarty, Dipesh. 2002. “Europa provinzialisieren: Postkolonialität und die Kritik der Geschichte.” In Jenseits des Eurozentrismus: Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, edited by Sebastian Conrad and Shalini Randeria, 283-312. Frankfurt am Main: Campus.

Haraway, Donna. 1997. Modest_Witness@Second_Millenium.FemaleMan©_Meets_OncoMouse™. New York / London: Routledge.

Povinelli, Elisabeth. 2014. “Downloading the dreaming? All of it extinguished but none of it dead?”, Keynote address at 13th Biannual EASA Conference, 31 July – 3 August 2014, Tallin.

Quine, W. 1969. “Ontological relativity.” In Ontological Relativity and Other Essays. Columbia University Press, 26-68.

Robbins, Joel. 2013. “Beyond the suffering subject: Toward an anthropology of the good.” Journal of the Royal Anthropological Institute N.S. 19:447-462.

Rottenburg, Richard. 2005. “Code-switching, or why a metacode is good to have.” In Global ideas. How ideas, objects and practices travel in the global econcomy, edited by Czarniawska, Barbara and Guje Sevon. Malmö: Författarna och Liber AB, 259-274.

Strathern, Marilyn. 1991. Partial Connections. Savage, Md.: Rowman & Littlefield.

Trouillot, Michel-Rolph. 1991. “Anthropology and the savage slot: The poetics and politics of otherness.” In Recapturing anthropology: Working in the present, edited by Richard Fox, 17-44. Santa Fe: School of American Research Press.

Cite this article as: Schramm, Katharina. January 2015. 'Leipzig 100 Years: Commentary on the “future of anthropology”'. Allegra Lab. https://allegralaboratory.net/leipzig-100-years-commentary-on-the-future-of-anthropology/

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